Reisetagebuch
Abflug am 01.03.2009 Berlin-Tegel über Paris, nach Johannesburg.
Erster Eintrag – so es die ‚Vernetzung‘ zulässt – am Montag, den 02.03.2009.
Endlich, Donnerstagabend, Zeit fuer den ersten Eintrag. Ankunft am Sonntagabend in Johannesburg. Die Stadt hat eine sehr westliche Anmutung. Es könnte auch New York sein, oder Los Angeles. Von der angekündigten Kriminalität ist wenig zu sehen. Das Hostel ist vergleichsweise luxeriös und entsprechend überraschend.
02.03.2009 Limpopo
Am Montag sofort „Feldeinsatz“. Mit einem Mitglied von GO AHEAD! zum ersten Dokfilmdreh nach Pretoria ins Headoffice der Partnerorganisation HEARTBEAT. Ein Briefing „Über Aids spricht man nicht“ – also keine direkten Fragen über AIDS stellen. Rein in den kleinen Toyota und weiter in die Region Limpopo, an der Grenze zu Zimbabwe, um unsere erste Protagonistin in einem ‚child headed household‘ zu besuchen. Ich weiss nichts über diese Menschen, außer: ein Mädchen, 20 Jahre alt sorgt für ihre beiden Brüder. Sie selbst hat ein Baby. Die Eltern sind – vielleicht, man spricht nicht drüber – an Aids gestorben. Wir haben diesen einen Drehtag, ich treffe meine Protagonistin das erste Mal und ich darf nicht mit ihr über das Thema sprechen.
Ich staune über die guten Strassen Südafrikas. Nur die letzten beiden Kilometer holpern wir durch Schlaglöcher aus roter Erde die so rot ist, weil hier bereits viel Blut geflossen ist – sagt die Legende.
Auf uns wartet eine zarte Frau, Lerato, mit kurzen Haaren und etwas verschwommenen Augen mit einem unendlich feingliedrigen Baby auf dem Rücken. Sie hat zwei Schwestern. Keine Brüder. Wir begleiten sie zu ihrem Haus. Ein Hütte aus Wellblech, zwei Betten für fünf Menschen, gekocht wird bei der Tante, es gibt kein fliessend Wasser. Das holen sie vom Dorfbrunnen. Im Garten einige Rinder . Wir vesuchen ein Interview, sind umringt von vielen Menschen, die alle zur Familie gehören und zuhören wollen. Bereits bei der zweiten einsilbigen Antwort ahne ich, dass es so nicht funktionieren wird. Ich belasse es bei einigen Fragen und setze ab jetzt auf Improvisation. Total. Wir nähren uns an, während Dennis, der Kameramann die Familie filmt, die auf einem kleinen Feuer im Garten Porridge kocht und Paul, der Tonmann mit der Angel den Rindern nachläuft, um eine Atmo aufzunehmen.
Das Eis bricht, als ich erzähle, dass ich auch ein Kind habe. Eine Tochter. Ich frage Lerato, ob sie weitere Kinder möchte – ohne einen Vater gesehen zu haben. Sie bejaht und lacht: Sie habe ja schon ein zweites. Ob sie es mir zeigen soll? Ich nicke, gebe dem Team hastig ein Zeichen, als ich mich von ihr durch den Garten auf das nächste Grundstück ziehen lasse. Wir gehen durch zwei Gärten und gelangen an ein kleines Haus. Mein Blick fällt auf dessen kahlen Boden aus Beton, auf dem mindestens zwölf kleine Kinder liegen. Auf Handtüchern, ohne Decke. Sie schlafen und eine ältere Dame wacht über ihren Schlaf.
Durch Zeichnungen an der Wand ist das Thema Aids plötzlich präsent. Als ich nachfrage, warum der Vater in der Sprechblase über HIV spricht, wird mir erklärt, dass die Kinder bereits in der Vorschule lernen, dass HIV gefährlich ist. Sie singen das HIV Lied für uns, während draussen unvermittelt ein Platzregen herunterbricht.
Lerato erzählt mir, dass sie die Schule abgebrochen hat, als ihre Mutter krank wurde. Der Vater war bereits tot und es gab keinen, der sich um die Mutter gekümmert hat. AIDS ist in Südafrika ein Stigma. Aidskranke sterben isoliert. Lerato hat die Mutter bis zu ihrem Tod gepflegt. Kurz vor ihrem Tod hat sie die älteste Tochter gebeten für die kleineren Geschwister zu sorgen. Die Familie lebt von dem Geld, welches sie durch das Waisenprogramm von HEARTBEAT empfangen.
03.03.2009 Soweto / Kliptown
Der erste Dreh für den Imagefilm. Eine Vorschule in einem Township. Wellblechhütten, zusammengezimmert, keine festen Strassen, einzige sanitäre Einrichtungen sind Dixikloos, die sich durch das Township verteilen. Hier hat niemand Arbeit und das warme Essen in der Vorschule ist meist das einzige Essen, welches die Kinder pro Tag erhalten. Die Kinder tanzen und singen für uns. Es sind schöne Bilder von fröhlichen Kindern, die in einem harten Kontrast zu dem Leben draussen stehen.
Wir erhalten die Möglichkeit mit einer AIDS Selbsthilfegruppe zu sprechen. Die Frauen stellen sich uns vor und es sind beeindruckende Lebensgeschichten, die sich dem, was für uns westeuropäische Frauen vorstellbar ist entziehen. Diese Frauen beweisen einen sehr grossen Mut, indem sie sich zu ihrer HIV Infektion bekennen.
Viele wurden von ihren Männern im Stich gelassen, als diese erfahren haben, dass die Frauen HIV positiv sind. Ungeachtet dessen, dass es vermutlich die Männer waren, die die Frauen infiziert haben. Oftmals weis nur der engste Familienkreis von der Infektion. Nicht aber die Brüder und Schwestern. Die Angst davor, dass man sie „Namen nennt“ ist zu gross.
Als ich abends die Drehlisten schreibe, bricht alles wie eine Welle über mich herein: Mir wird bewusst, dass viele der Menschen, mit denen ich in den letzten beiden Tagen gesprochen habe, in absehbarer Zeit tot sein werden. Neben den Menschen, bei denen ich um ihre Infektion weiß, erscheinen in meiner Erinnerung die Gesichter der Menschen und Kinder, von denen ich es nur vermuten kann. Jeder dritte ist infiziert. Die Schulleiterin hat von den HIV positiven Kindern in ihrer Einrichtung gesprochen und vor meinem inneren Auge sehe ich die schmächtigen Kinder, deren Gesichter bereits überdeutlich konturiert sind.
04.03.2007 Nellmapius / Gauteng
Dreh in einer Afterschool von HEARTBEAT. Wieder tanzende und singende Kinder. Ein wunderschönes Setting. Blau, rot. Ein Interview mit einem bemerkenswerten Schulleiter, Billy. Er spricht aus, was in den Tagen zuvor nur angedeutet wurde. Er scheut sich nicht, darüber zu sprechen, welche Probleme und Konflikte AIDS in der Gesellschaft verursacht und dass es die Männer sind, die die Pandemie befördern, indem sie Kondome als etwas Westliches ablehnen. Und wenn ein Mann sagt „kein Kondom in meinem Haus“, dann fügt sich die afrikanische Frau. Wenn eine Frau HIV positiv ist, dann lässt der Mann sie häufig im Stich und bezichtigt sie der Prostitution. Wenn hingegen ein Mann HIV positiv ist, dann bleibt die Frau bei ihm, um ihn zu pflegen und so zu vertuschen, dass er an AIDS leidet. Billy erklärt, dass in Südafrika niemand an AIDS stirbt. Sie sterben an TB, an Krebs oder an etwas anderem. Aber kaum jemand spricht aus, dass die wahre Todesursache AIDS war. Das Stigma ist zu gross. Und selbst die Regierung ordnet an, dass bei AIDS als Todesursache „natürlicher Tod“ in der Todesurkunde eingetragen wird.
Wir treffen wenig später auf eine Gruppe Teenager mit denen wir uns unterhalten. Ich frage sie danach, ob die Tatsache, dass ihre Eltern früh gestorben sind ihnen ein Stück ihrer kulturellen Identität genommen hat. Sie haben viele Geschichten, in denen der frühe Tod der Eltern dazu führt, dass ihnen diese Wurzeln fehlen.
Im Gespräch werden wir mit einer Lebensgeschichte konfrontiert, die in der Dimension ihres Leids kaum zu ertragen ist. Nachdem Tamis Mutter an AIDS gestorben ist, hat der Vater sie und ihre acht Jährige Zwillingsschwester im Stich gelassen. Nur der fünfzehnjährige Bruder hat sich noch um die beiden gekümmert. Sie leben zu dritt auf der Strasse, die kleinen Mädchen werden als Drogenkuriere benutzt. Eines Nachts wird der Bruder in Gegenwart der Mädchen erschossen. Tami wird von den Mördern mitgenommen und missbraucht. Ihre Schwester kann fliehen. Sie leben heute in Pflegefamilien. Beide sind fünfzehn. Die Schwester hat im Januar versucht sich mit Säure das Leben zu nehmen.
05.03.2009 Katlehong
Wir treffen Elisabeth. Sie ist die Grossmutter von Lucky, der als Säugling in der Klinik durch eine Spritze mit HIV infiziert wurde. Die Mutter hat ihn daraufhin im Stich gelassen und nun kümmert sich Elisabeth um den Ur- Urenkel. Sie erzählt uns ihre Lebensgeschichte in drei Stunden in Zulu. Wir verstehen nur Bruchstücke. Die knappen Übersetzungen der Sozialarbeiterin geben einen groben Überblick über ein sehr bewegtes Leben.
Die Begegnung mit Elisabeth berührt mich sehr. Sie ist sanft und lacht viel. Sie war früher ein „natural doctor“. Sie zeigt uns Fotos in den traditionellen Gewändern. Drei ihrer vier Kinder sind gestorben: An TB und an Krebs, sagt sie.
06.03.2009 Johannesburg
Wir drehen wieder für den Imagefilm. Das Jugendbotschafter Programm von GO AHEAD! Nachmittags fahren wir noch einmal fuer ein langes Interview zu Billy. Als es dämmert nutzen wir die Gelegenheit um Nachtaufnahmen in Vierteln zu machen, die erst nach Einbruch der Dunkelheit lebendig werden. Wir filmen aus dem Auto heraus. Aussteigen wäre keine gute Idee.
07.03.2009 Fahrt nach Kwa Zulu Natal
Heute geht es weiter nach Kwa Zulu Natal. Wir werden zwei Tage im Hluhluwe/Imfolozi National Park verbringen. Wir wollen die Zeit nutzen, um Interviews mit Touristen in Luxuslodges zu drehen und um die Atmosphäre zu bekommen, die die Exposition des Films bestimmen soll. Auf der Fahrt geraten wir in einen Konvoi von IFP Sympathisanten. Die Wahlen stehen bevor und IFP und ANC liefern sich teilweise heftige und gewaltsame Auseinandersetzungen.
07.-09.03.2009 Mtubatuba
Wir drehen keine Touristen. Wir drehen Gras, in allen Variationen, im Zusammenspiel mit dem Klarinettenkonzert von Mozart eine Reminiszenz an ‚Jenseits von Afrika‘. Dies wird die Exposition der Dokumentation werden. Die romantische Vorstellung Afrikas wird mit der Realität Afrikas kontrastiert, die so ist – vielleicht – weil wir Europäer eingegriffen haben.
Wieder zurück in Deutschland höre ich im Radio, während ich mich auf den Rechtsverkehr konzentriere, dass jeder siebte Jugendliche in Deutschland ausländerfeindlich ist. Es ist mir ein Rätsel und abscheulich zugleich.
Als AIDS begonnen hat sich in Schwarzafrika auszubreiten, gab es eine Vermutung: AIDS wurde von den Weißen nach Afrika gebracht, um die Schwarzen auszurotten. Erst, als bekannt wurde, dass auch die Weißen an AIDS sterben, hat sich dieser Verdacht zerstreut. Doch auch heute noch wird HIV von den Chiefs als ‚Krieg‘ bezeichnet.
10.03.2009 Cato Ridge
Einiges Gras später. Wir fahren weiter in die Region Valley of the 1000 hills. Atemberaubende Schönheit gepaart mit überwältigender Armut. Wir wohnen in einem Kinderdorf. Die Kinder sind anders als die Kinder die wir bislang getroffen haben. Entgrenzter. Von europäischen Volunteers, die ein freiwilliges soziales Jahr im Kinderdorf absolvieren, zum permanenten Toben animiert.
Auf dem Weg stoppen wir an einer Mall, um den Kontrast zu filmen. Der zur Schau getragene Luxus erscheint im Vergleich zu der Armut, die kaum 30 km entfernt das Leben der Menschen prägt obszön. In der Mall gibt es eine künstliche Welle, auf deren Kamm ein rotblonder Junge an der Hand des Vaters die ersten Versuche auf dem Borad unternimmt, während sich wenige Meter daneben braungebrannte Könner im Tunnel der Welle gleiten.
11.03.2009 Valley of the 1000 hills
Wir besuchen eine weitere Preschool. Es gibt nicht wirklich was zu drehen. Lachende und tanzende Kinder haben wir bereits. Wir brennen auf den nächsten Dokdreh. Doch zunächst drehen wir in der glutheißen Mittagssonne die Anmoderationen des GO AHEAD! Teams für den Imagefilm. Dann endlich geht es los: Unser Weg führt uns in eine abgelegene Gegend des Valleys. Die Straßen sind eng und abschüssig.
Wir halten bei einem kleinen Hof, in dem uns ein Hund an einer Kette entgegenspringt. Wir haben eine Verabredung mit einem traditionellen Heiler. Ich bin sehr aufgeregt. Der Mann hat eine große Ausstrahlung und ich fürchte aus Unkenntnis Regeln zu verletzen. Sein Minenspiel ist faszinierend. Er zieht uns in seinen Bann und wir sind überrascht, wie wenig das, was er sagt dem entspricht, was wir erwartet haben. Er spricht offen über AIDS. Er erklärt, dass er nur die Symptome behandeln kann, nicht aber die Krankheit an sich. Ich frage ihn, was er tut, wenn jemand mit einem Symptom zu ihm kommt, als dessen Ursache er eine HIV Infektion vermutet. Er erklärt sehr ausführlich, dass er das dem betreffenden Menschen natürlich nicht direkt sagen kann, da Menschen an so einer schlimmen Nachricht sterben können, wenn man sie nicht schonend darauf vorbereitet. Darum spricht er mit den Angehörigen, damit diese dem Menschen nahe legen, sich einem Test zu unterziehen.
Auf meine Frage, wie die Pandemie bekämpft werden kann, hat er eine sehr klare Antwort: Kondome. Als ich ihn danach frage, inwieweit AIDS seiner Ansicht nach die afrikanische Gesellschaft verändert, wird sein Gesicht sehr nachdenklich. Im Grunde, so erklärt er, sei ihre Kultur längst gestorben. Wenn die Mädchen noch nach der Tradition leben würden, so könnte AIDS nicht derart voranschreiten. Früher sind die Mädchen als Jungfrauen in die Ehe gegangen. Heute müssen häufig ihren Körper verkaufen, damit sie etwas zu essen haben. Früher, als die traditionellen Strukturen noch intakt waren, wäre so etwas unmöglich gewesen.
Abends treffe ich im Kinderdorf Charly, einen beeindruckenden Sozialarbeiter aus UK, von dem ich Einzelheiten über unsere nächste Protagonistin erfahre. Das Gespräch führt vom Schicksal dieser Gogo (so nennt man in Südafrika respektvoll alte Frauen), zu anderen Familiengeschichten aus dem Valley. Charley erzählt von einem schwerkranken Baby, welches er vor wenigen Tagen aus einer Familie geholt hat. Die Mutter war AIDSkrank und lag bereits im Sterben. Sie hatte durch ihren sehr geschwächten Zustand keine Milch mehr und die Familie hatte kein Geld, um Babynahrung zu kaufen. So haben sie einen kleinen vorhandenen Rest mit vermutlich schlechtem Wasser verdünnt. Das Schlimmste ist, so Charley, dass die Menschen ihre Kinder lieben und wirklich für sie sorgen wollen. Aber sie können es nicht, weil sie zu arm sind, oder weil sie bereits zu krank und schwach sind, um noch für ihre Kinder sorgen zu können. Als er das Baby aus der Hütte getragen hat, hat die Mutter sich zur Wand gedreht und sich die Decke über den Kopf gezogen.
12.03.2009 Valley of the 1000 hills
Der Tag beginnt mit einer erneuten Fahrt durch das Valley. Die Schönheit der sattgrünen Landschaft ist umwerfend. Ein Fluss mäandert durch das Tal. In der Mitte kleine Steininseln auf denen Bäume und großblättrige Pflanzen wachsen. Menschen waschen am Flussufer ihre Wäsche. Auf dem Rückweg sehen wir nackte Menschen, die sich am Flussufer einseifen und waschen, oder mit Schüsseln zum Fluss hinunter gehen, um Wasser zu holen.
Die Gogo sitzt an einer mint grünen Hauswand. Ihr Oberkörper ist stark gekrümmt und ihr ganzes Gesicht lacht, als sie uns begrüßt. Sie ist heute ein bisschen schlecht zu Fuß, entschuldigt sie sich, als sie uns die Hand reicht.
Ich brauche eine ganze Weile, um mich in der komplexen Familiengeschichte zu orientieren. Die Gogo ist die Witwe eines Chiefs. Sie war die Zweitfrau und es war eine Liebesheirat. Sie hat nur eine Tochter. Diese Tochter klappert im Inneren des Hauses mit den Kochtöpfen. Sie ist scheu und schweigsam. Die Leute sagen, sie ist geistig verwirrt. Charly vermutet, dass sie durch ein schlimmes Erlebnis traumatisiert ist, doch in Afrika wird das alles unter dem Überbegriff ‚mentally‘ zusammengefasst. Die Tochter verschwindet von Zeit zu Zeit und lässt die Mutter alleine zurück. Die Gogo hat ihrer Tochter eine Matratze gekauft, in der Hoffnung, dass sie dann nicht mehr verschwindet. Außer der Tochter gibt es noch einen Enkelsohn, der ebenfalls ‚mentally‘ ist und furchtbar viel isst, beklagt die Gogo. Nachts wacht sie davon auf, dass er nach Essen sucht. Sie versucht ihn dann davon abzuhalten, weil das Essen sonst nicht bis zum nächsten ‚food parcel‘ reicht. Doch die schwache Frau hat keine Chance gegen den kräftigen jungen Mann. Dann gibt es noch mehrere Urenkeltöchter. Eine davon ist auch ‚mentally‘. Sie wurde missbraucht und hat nun ein kleines Kind. Sie sind schutzlos, erklärt die Gogo. Sie ist alt und ihre Tochter und der Enkelsohn sind geistig verwirrt. Alle anderen sind Kinder. Die Menschen wissen das und greifen sie an. Neulich wurde ihnen von den Nachbarn das ‚food parcel‘ gestohlen. Als wir der Gogo Nachmittags die Spenden geben, die wir jedem Protagonisten geben, müssen wir sicherstellen, dass es keine Zeugen gibt. Sonst ist zu befürchten, dass nach unserer Abfahrt jemand kommt und es ihnen wegnimmt.
Dann beginnt die Gogo von der Zeit zu erzählen als ihre beiden Enkelinnen noch gelebt haben. Sie haben beide gearbeitet und der Gogo viel Respekt erwiesen. Sie haben Essen und einen Herd gekauft. Als sie noch gelebt haben, gab es immer etwas zu essen und es hat ihnen an nichts gefehlt. Die Schönheit der einen Enkeltochter bringt die Gogo ins Schwärmen. Sie schirmt ihre Augen gegen die Sonne ab und deutet auf den Hang der steil in Richtung Tal abfällt: Dort liegt sie begraben. Ich folge ihrem Zeichen und entdecke einen kleinen Erdhügel mitten im Garten. Schmucklos und unscheinbar. Viele Menschen in den armen Regionen Südafrikas besitzen nicht einmal eine Geburtsurkunde. Sie werden geboren und sterben ohne jemals registriert zu sein. Eine der beiden Enkeltöchter hat der Gogo kurz vor ihrem Tod gesagt, dass sie HIV positiv ist. Die andere Enkeltochter hatte furchtbare Kopfschmerzen und ist dann ebenfalls gestorben. (Starke Kopfschmerzen gehören zu den Symptomen einer Aidserkrankung). Zurück bleiben die Urenkel, für die die Gogo nun mit ihrer Pension sorgt. Die Pension und die ‚food parcels‘ sind das Einzige, was die siebenköpfige Familie zum Leben hat.
Nachmittag. Charly kommt mit dem Team von GO AHEAD!, um uns abzuholen. Wir drehen während der Fahrt. Recherche. Mir schwebt eine neue Idee vor. Mit Zeit, ohne link zum Imagefilm. Mehr Zeit zum Drehen. Dokumentarisch. Nicht permanente Improvisation die überwiegend auf Interviews fußt, ohne eine Reportage sein zu wollen, sehnsüchtig jede dokumentarische Begebenheit aufsaugend. Charlys Geschichten, die er hastig hevorstößt, während er den Jeep durch das schmale Valley manövriert, sind beklemmend. Ein blindes Kind, eingesperrt in einen Raum, dem die Ratten die Zehen angefressen haben. Eine blinde Mutter, die ein Baby zur Welt bringt, welches von der acht Jährigen Schwester mit einer Glasscherbe abgenabelt wird. Eine Großmutter, die ihre Lebenszeit am Alter Mandelas misst. Eine Lehmhütte, sechs Quadratmeter und eine offene Feuerstelle, in der sieben Menschen leben. Von elf Kindern die sie hatte, sind zehn an AIDS gestorben. Was bleibt ist die Fürsorge für die Enkel und die Urenkel.
Wir kommen zu dem Haus, wo Charly vor wenigen Tagen den Säugling abgeholt hat. Er will prüfen, ob die Mutter des Säuglings, die er einen Tag später in ein Krankenhaus bringen konnte, auf eigene Faust nach Hause zurückgekehrt ist. Die Mutter ist noch im Krankenhaus. Erleichterung. Eine alte, sehr hagere Frau, die offenbar auch an AIDS erkrankt ist tritt aus der Hütte, welche aus einem mit Wellblech verkleideten Holzgerüst besteht. Sie trägt eine grüne Schürze. Darunter ist sie nackt. Jeder ihrer Knochen, der unter der Haut kantig hervorspringt, ist zu sehen. Die junge Frau mit dem Säugling ist ihre Nichte. Die alte Frau nickt knapp, lächelt schüchtern und alle dürfen fotografieren.
Mit dem Rücken zu uns sitzt eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm. Es trägt einen schneeweißen Strampelanzug. Einmal mehr staune ich, wie es den Müttern gelingt, die Kleidung ihrer Kinder unter diesen Bedigungen derart sauber zu halten. Die saubere Kleidung der Kinder ist auffallend. Egal, ob in den Preschools, oder mitten in den Shags.
Wir kehren in das Kinderdorf zurück und die Eindrücke des Tages zwingen uns beinahe in die Knie. Wir machen uns schnell frisch und werden dann schon wieder im großen Festsaal des Kinderdorfes erwartet, wo die ‚Young Zulu Warriors‘ extra für die Gäste aus Deutschland ihre Show performen. Dennis gelingt es in der knappen Auszeit einige Karten auf dem Rechner zu sichern, damit wir die Show filmen können. Zum ersten Mal seit unserer Reise haben wir an einem Tag alle sechs Karten gefüllt. Wir drehen weitere zwei Stunden. Die Show ist imposant. Man ahnt, was für eine faszinierende Kultur das Leben der Zulus bis vor wenigen Jahrzehnten geprägt hat. Ich erinnere mich an die Worte des Heilers und Wehmut befällt mich. Ich werfe mir verklärende Romantisierung vor und weiß nach allem, was ich in den letzten Tagen gesehen habe doch nicht mit Gewissheit zu sagen, welchen Nutzen die Moderne gebracht hat. Auch dies vermutlich ein falscher Gedanke. Ich lasse ihn fallen, weil ich keine Antwort weiß.
13.03.2009 Valley of the 1000 hills
Der letzte Drehtag beginnt anstrengend. Wir sind viel zu spät dran. Ich fahre so schnell es geht durch das Valley, bemüht uns nicht alle umzubringen. Ein Dreh für den Imagefilm. Die Selbsthilfegruppe ZIMELE. Alte Damen, die sich gemeinsam organisieren um durch die Gemeinschaft ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sie sparen gemeinsam, sie gründen Gruppen, in denen sie malen und Kleinkunst herstellen, die sie verkaufen.
Wir fahren an einer Menschenmenge vorbei. Es ist Freitagmorgen. Im Valley wird die Pension ausgezahlt. Die Situation vor dem Gemeindehaus gleicht einem Jahrmarkt. Frauen sitzen auf der Wiese und haben Gemüse zum Verkauf vor sich ausgebreitet. Wunderschön. „Jetzt aussteigen. Sofort anhalten! Drehen!!“ , hämmert es in meinem Kopf. Doch wir müssen weiter. Das Team von GO AHEAD! wartet für den ZIMELE Dreh.
Der Dreh ist schnell vorbei. Es ist elf Uhr dreißig. Voller Hoffnung frage ich Smilo, einen Mann aus dem Valley, ob die Menschen jetzt immer noch vor dem Gemeindehaus auf ihre Pension warten. Leider ist um elf Uhr alles vorbei.
Wir fahren zu einem anderen Gemeindehaus, welches auch als Kirche genutzt wird. Dort treffen wir die nächsten Protagonisten eines ‚child headed households‘. Ich weiß nichts über diese Kinder, da die Sozialarbeiterin die zugesagten Protagonisten heute morgen ausgetauscht hat. Ich bin pessimistisch. Doch als ich den Kindern dann gegenüberstehe habe ich plötzlich das sichere Gefühl, dass das ein guter Dreh werden wird. Ein Zwillingspäärchen: Junge und Mädchen,17 Jahre alt und die jüngere Schwester. Vierzehn. Die Kinder leben seit vier Jahren allein. Zunächst starb 2000 der Vater, dann 2001 der kleine Bruder im Alter von vier Jahren und dann, 2005 die Mutter. Alle drei sind an AIDS gestorben. Die Gesichter der Kinder sind ruhig, beinahe regungslos, als sie das erzählen. Erst als ich nach Erinnerungen an die Eltern frage, breitet sich ein Leuchten auf ihren Gesichtern aus: Die Hochzeit der Eltern, 1995, gehört zu den schönsten Erlebnissen der drei Kinder. Sie schwärmen von der Hochzeitstorte. Als ich nach einem Foto frage, verschwindet der Junge in dem ehemaligen Schlafzimmer der Eltern, in dem er heute schläft. Später sehe ich, dass die Wände schimmeln und die Schaumstoffmatratze voller Stockflecken ist. Die Mädchen teilen sich ein Bett, welches in dem Raum steht, der zugleich als Esszimmer dient. Das kleine Haus hat Elektrizität und eine kleine Küche mit einem Gaskocher. Doch Wasser müssen die Kinder vom Fluß, zwei Kilometer den Hang hinunter, holen. Jeden Morgen zum Waschen und jeden Nachmittag zum Kochen. In dem kleinen Album befindet sich auch ein Foto von dem kleinen Bruder. Bereits als Baby ist er von der Infektion gezeichnet. Die Kinder beginnen von den Eltern zu erzählen. Sie schwärmen von dem offenen und freundlichen Wesen des Vaters. Hope, die Zwillingsschwester, ist zart und wesentlich kleiner als ihre jüngere Schwester. Sie spricht leise und schüchtern. Sie nimmt ihre Hände zu Hilfe, um dem was sie sagt Ausdruck zu verleihen. Als der Vater noch gelebt hat, hatten sie immer zu essen. Er hat Fleisch für sie gekauft. Selbst als er bereits krank war ist er jeden Tag zur Arbeit gegangen. Er hat gesagt, dass er für seine Familie sorgen muss. Eines Tages ist er auf dem Weg zur Arbeit tot zusammengebrochen. Heute leben die drei Kinder von den ‚food parcels‘. Ein Paket reicht für drei Wochen. Damit es bis zum Ende des Monats reicht, setzen die Kinder immer wieder einen Tag aus und essen nichts. Nhlanhla, der Bruder, hat die Schule bereits abgeschlossen. Er würde gerne Maschinenbau oder Agrarwissenschaft studieren, doch dafür fehlt das Geld. Der Tagesablauf der drei Kinder ist diszipliniert und klar strukturiert. Sie stehen um fünf Uhr auf, holen am Fluss Wasser, waschen sich und wenn etwas zu Essen da ist, machen sie sich ein Frühstück. Dann gehen sie 5 km zur Schule. Wenn sie von der Schule zurück kommen putzen sie das Haus und waschen Wäsche. Dann kochen sie, wenn etwas zum Kochen vorhanden ist. Anschließend machen sie bis Mitternacht Hausaufgaben und lernen. Als ich sie nach dem Kostbarsten in ihrem Leben frage, antworten alle drei ‚Education, education, education.‘ Die Tapferkeit der drei Kinder beeindruckt uns tief. Ihr Schicksal geht uns nahe und wir hoffen nach unserer Rückkehr nach Deutschland etwas für sie tun zu können, um die existentiellen Sorgen zu lindern. Um so mehr trifft es mich, als mir die Sozialarbeiterin beim Abschied erklärt, dass Hope vermutlich auch HIV positiv ist. Sie ist an TB erkrankt. Bislang hat sich keines der Kinder einem HIV Test unterzogen. Verzweifelt erkenne ich die Vergeblichkeit der Bemühungen dieser Kinder. Eines wird mit großer Wahrscheinlichkeit sterben. Was wird dann aus den beiden anderen, aus ihrem Lebensmut, aus ihrem harten Kampf für ein besseres Leben? Ich höre, wie sie mir sagen, was sie einmal werden wollen: Wissenschaftlerin, Sozialarbeiterin und Agraringenieur. Berufe, die Südafrika in Zukunft dringend brauchen wird.
Billy sagt in seinem Interview: „Für unser Land besteht Hoffnung, wenn es uns gelingt, einen Generation ohne HIV großzuziehen.“ Ich ahne, dass es sich hierbei noch nicht um Hopes und Nhlanhlas Generation handelt.
14.03.2008 Warner Beach
Wir fahren früh noch einmal ins Valley und drehen. Gegegn 12 Uhr fahren wir auf die Autobahn unserem letzten Ziel entgegen: Einem Hostel am Indischen Ozean. Als ich auf der Terasse stehe und sich vor mir der Ozean erstreckt, auf dessen Oberfläche die Sonne glitzert, denke ich an die vielen Kinder denen ich in den letzten Tagen begegnet bin. Obwohl sie kaum eine Stunde von diesem Anblick trennt, werden viele den Ozean niemals zu Gesicht bekommen. Wir gehen früh zu Bett.
15.03.2009 Durban
Rückflug über Johannesburg und Paris nach Berlin. Nach knapp 24 Stunden landen wir am Montag in Berlin Tegel.
17.03.2009 Caputh
Ich habe heute den Papstbesuch im Fernsehen verfolgt. Er landet im Kamerun und sagt, dass Kondome keine Lösung für AIDS sind. Ich bin wütend und wundere mich, dass ein traditioneller afrikanischer Heiler, der in den Bergen Kwa Zulu Natals lebt, moderner ist, als unser Papst: denn der Heiler sagt, dass Kondome die einzige Lösung sind, um der AIDS Pandemie entgegenzutreten. Eine Lösung – neben der Enthaltsamkeit, die die Tradition der Zulus, zumindest bis zur Ehe, ebenso vorsieht, wie die katholische Kirche. Ich schäme mich für die Europäer und ich denke scharf nach, wo die Kolonialisierung irgend einem anderen Volk außer uns Europäern einen Nutzen gebracht hätte. Es fällt mir nichts ein.